Vorbild an Fehlbarkeit

Führung Hybrider Arbeitswelten

Führungspersonen sollten Vorbild an Fehlbarkeit sein. Fehlbarkeit zu ermöglichen ist, den Forschungen von Amy Edmondson folgend, eine der wichtigsten Einflussmöglichkeiten auf psychologische Sicherheit in der Organisation.

Die Vorbildfunktion von Führung war schon vor der Pandemie oft herausfordernd. Aktuell scheint sie mir zentraler denn je. Die Zeiten sind weiterhin – und für unsere Psyche eigentlich schon viel zu lange – unsicher & instabil. Dennoch beobachte ich, wie sich gleichzeitig -ohne gezielte Strategie- neue Routinen und Wahrheiten in Organisationen etablieren. Das erscheint mir gefährlich. Denn allzu oft wurden diese weder reflektiert noch versprachlicht. Was jetzt als „normal“ angesehen wird hat sich eingeschlichen.

Ich stolperte kürzlich in einem Podcast über einen von mir sehr geschätzten und durchaus berühmten Kollegen der Beraterszene, der in einem Nebensatz sagte: „naja, online ist ja super für die Effizienz, alle schaffen jetzt mehr, aber was halt nicht geht, ist Kontakt, der geht verloren.“ Ein anderer Kollege stellte fest: Online-Zusammenarbeit macht mehr Hierarchie, verfestigt Kontroll- und Überwachungstendenzen.

Ich war entsetzt. Beide sprachen, als wären diese Erkenntnisse Tatsachen. Es sind jedoch aktuelle Beobachtungen auftretender organisationaler Phänomene! Ist das evident oder ist es etwas, was viele erleben? Wir sind hineingestolpert in diese neue Situation und haben unter großem Druck neue Lösungen gefunden – ohne die Möglichkeit innezuhalten, um zu fragen: Passt das so? Was fehlt? Stattdessen füllte sich manches Büro heimlich schneller wieder als erlaubt und es wurde in Stein gemeißelt, was online möglich ist auf Grundlage dessen, was als erstes und unter großem Druck versucht wurde. Der so bedeutsame nächste Schritt des „Welche Phänomene nehmen wir aktuell war?“ „Wie gut passt das, zu dem, was wir voneinander brauchen?“ und „Wie wollen wir das zukünftig gestalten?“ wurde nur in seltenen Fällen gegangen.

Dort, wo derartige Fragen gestellt wurden, entstanden beeindruckende Konzepte. Dort gibt es heute bereits eine funktionierende hybride Arbeitskultur, die auch (informellen) Kontakt ermöglicht, ja sogar inszeniert und die beteiligungsorientierter, egalitärer als vorher, Zusammenarbeit ermöglicht.

Wir kennen Teams, die über das morgendliche Ritual des online Check-Ins nun von sich sagen, mehr Verbindlichkeit und kürzere Absprachen bei gleichzeitig mehr privatem Kontakt zu haben. Wir freuen uns über die Organisation, die regelmäßig per Zufallsgenerator alte und neue MA zieht, die während der Arbeitszeit online-Austauschzeit bekommen, so dass neue MA über den eigenen Bereich hinaus in der Organisation ankommen. Und ganz wunderbar finden wir auch die Geschäftsführung, die das Laptop mit dem zugeschalteten GF-Kollegen, der als Risikopatient dauerhaft home office macht, mit seinem Lieblingstrikot kleidet und das Laptop regelmäßig in die Cafeteria mitnimmt, so dass Mitarbeitende mit ihm plaudern können.

Kleine Geschichten, die einen großen Unterschied machen.

Wenn Sie nach Wegen dafür suchen, dass die sich abzeichnende hybride Zukunft Ihrer Arbeitswelt möglichst oft Effizienz und Menschliches verbindet, dann habe ich hier – in Zusammenarbeit mit meinen Kolleg*innen – ein paar Reflexionsangebote zusammengetragen.

Eine hybride Arbeits-Zukunft aktiv gestalten

Unsere Ausgangshypothese ist: Organisationen, die die Bedeutsamkeit von Kontakt und Beteiligung als integralen Bestandteil der hybriden Zusammenarbeit begreifen, rahmen Arbeitsprozesse. Weil uns das so am Herzen liegt, formulieren wir ab jetzt in Form direktiver Handlungsempfehlungen, gegen unsere sonstigen Coaching-Gewohnheiten:

(Neu-)Organisation von Information

Organisieren Sie den Informationsfluss. Egal ob Büro oder remote, jede*r hat für den Moment ausreichend definierte Zugänge zu Information.

Synchron/Asynchron – Prozesse auf Notwendigkeiten untersuchen

Sorgen Sie für klare Definitionen asynchroner (zeitversetzt, ortsunabhängig) und synchroner (zeitgleich, ortsunabhängig) Arbeiten. Alle wissen so ausreichend gut, was gemeinsam und was zeitversetzt bearbeitet wird und auf welchen Plattformen dies geschieht.

Befördern Sie asynchrones Arbeiten, in dem Sie für die Voraussetzungen sorgen, dass Informationen asynchron zur Verfügung stehen. Vereinbaren Sie, wer sich wozu informiert und in welchem Turnus. Information zur Verfügung stellen ist Pflicht der Informierten; Information einholen ist Pflicht der Empfänger*in. Informationen sind auch: Wissen, Entscheidungen und Entscheidungsgrundlagen für synchrone Besprechungen. Wenn Entscheidungen emotional triggern (sollen), wählen Sie Formate, die Emotionen tragen: Video-, Audio-Botschaften, verzichten Sie auf Text.

Akzeptieren Sie, dass individuell auszuführende Tätigkeiten, egal wo und wann gearbeitet werden können. D.h., vertrauen Sie auf die Eigenverantwortlichkeit und Expertise Ihrer Mitarbeitenden.  

Entwickeln Sie noch stärkeres Bewusstsein dafür, dass die gemeinsame, synchrone Zeit in Organisationen zukünftig

  • informelle Zeit,
  • Zeit für absichtsfreie, auch zufällige, Begegnung,
  • kollaborative Zeit und
  • Reflexionszeit ist.

Ritualisierte Reflexion

Sorgen Sie dafür, dass alle Beteiligten wissen, dass nichts in Stein gemeißelt ist. Machen Sie offiziell, dass ausprobiert wird. Gemeinsam werden Reviews, Lernschleifen, Testballons getestet. Etablieren Sie die Idee, dass die Überarbeitung auch von Arbeitsweisen und Strukturen als Normalität und Alltagsaufgabe begriffen wird.

Funktion von Führung: Fehlbarkeit ermöglichen

In den beschriebenen Settings ist Fehlbarkeit möglich. Es geht nicht ums Fehler machen, sondern darum, uns Irrtümer eingestehen. Der Unterschied: Fehler entstehen im Abgleich mit bestehendem Wissen, Wahrheit, Richtigkeit. Was für die aktuellen Aufgaben die beste Arbeitsweise ist, wissen wir aktuell oft noch nicht, weil die Situation dafür zu sehr in Bewegung ist. Und so handelt es sich im neuen hybriden Arbeiten meist um Irrtümer. Sie sind Meilensteine auf dem Weg der Erkenntnis: Aaaah, so geht es also nicht. Irrtümer konnten vorab nicht gewusst werden. Sie liefern Wissen über blinde Flecken. Insofern müsste der Begriff der Fehlbarkeit eigentlich Irrtumbarkeit heißen.

Führungs-Vorbildfunktion

In sich wandelnden Arbeitsformen ist der Blick auf Führung noch deutlicher. Solange es noch keine Regeln gibt, probieren manche Mitarbeitende spontan den eigenen Vorlieben entsprechend Strategien aus, gestalten mit mehr oder weniger Rücksprache den eigenen Kosmos, andere achten auf das, was Führung tut und kopieren. Deswegen gilt: Potenziell alles, was Sie tun, wird als „achsomachenwirdasjetztalso“ gewertet. Sie setzen vermeintlich eine neue Norm.

Diesem Gedanken folgend, hier nun ein paar Beispiele, wie Führungspersonen es ihren Mitarbeitenden leichter machen können, ihr hybrides Arbeitsleben gesund zu gestalten:

  • Asynchron arbeiten: wenn Arbeitszeit von Führungspersonen für andere sichtbar ist, dann sollte dies nur zu regulären Arbeitszeiten möglich sein, nicht nachts, nicht am Wochenende! Bitte auch kein Mailversand zu Zeiten außerhalb der Arbeitszeiten. Nutzen Sie Ihren „später senden“-Button!
  • Synchron arbeiten: Führungspersonen sollten Informelles weiter wichtig nehmen. Da die Zwischen-Tür-und-Angel-Gespräche nicht mehr zufällig entstehen, brauchen sie Inszenierung. Es ist also Führungsaufgabe, informelle Zeit zu organisieren. Beachten Sie dabei, wie viel dieser Zeit Sie dabei sein sollten, wenn es informell wird, wie viel Zeit braucht das Team auch ohne Führungsanwesenheit.  Übrigens, wenn Sie nie dabei sind, ist das lesbar als: ich finde das nicht so wichtig… Also: mitmachen, auch hier Vorbild sein. Veröffentlichen Sie sich, so wie es für ihre Arbeitszusammenhänge und Arbeitskultur bisher auch angemessen war. Oder sprechen Sie sogar noch ein bisschen mehr über ihre Befindlichkeiten. Gerade bezüglich Unsicherheiten Technik/Pandemie etc. senkt dies die Hemmschwelle der Mitarbeitenden, Unsicherheiten zu veröffentlichen.
  • Halten Sie keine (Info-)Monologe in Besprechungen, sondern organisieren Sie eine angemessene Informationskultur. Pflegen Sie die Ablage/Info in den abgesprochenen Systemen und vermeiden Sie den kurzen Dienstweg. Da der Flurfunk reduziert ist, kommen schnell-zwischendurch-Infos bei noch weniger Mitarbeitenden an, die anderen fühlen sich leichter außen vorgelassen!

Die hybride Arbeitswelt ist noch neu. Es musste erst sehr schnell gehen, nun wird klar, es ist keine Ausnahme, es wird sich in etwas vorher nicht Dagewesenes entwickeln. Da kann noch nicht alles fertig sein. Deswegen ist es an Ihnen, als Führungsmensch, die neuen Gewohnheiten zu überprüfen und einzufordern, Zeit frei zu schaufeln, um die Fragen zu stellen, für die in den letzten zwei Jahren keine Zeit war. Hören Sie ihren Mitarbeitenden zu und interessieren Sie sich dafür, was im Homeoffice gefehlt hat (und was für good practice sich informell bereits gebildet hat), was online besser ging und was in der neuen Mischung nun verlässlich verabredet werden kann, bis Sie es ein nächstes Mal (wann genau?) reflektieren werden.

Puh, das musste mal raus!

Vanessa Krüger