Was für ein hoffnungsvolles Buch!

Ich habe Norman Doidge „Neustart im Kopf. Wie sich unser Gehirn selbst repariert“ gelesen. Und bin so inspiriert. Das Buch strotzt nur so vor Geschichten der jüngeren Medizingeschichte, die belegen, dass das Wissen darüber, wie unser Hirn funktioniert – so lückenhaft es immer noch sein mag – doch heute schon für viele menschliche Herausforderungen Lösungsfindungen erleichtert. Norman Doidge schreibt so, dass es sowohl spannend als auch unterhaltsam ist und wir ganz nebenbei zum Beispiel lernen dürfen, warum Füße so ein weit verbreiteter Fetisch sind (In den 1930er Jahren wies der Neurochirurg Dr. Wilder Penfield nach, dass bestimmte Bereiche des Gehirns für bestimmte Bereiche des Körpers zuständig sind und erstellte die erste „Landkarte“ des Gehirns. Es zeigte sich z.B., dass die jeweiligen Bereiche für Füße und Genitalien genau nebeneinanderliegen. Das ist vermutlich der Grund dafür, dass der Fuß als Fetischobjekt verbreiteter ist als Hand oder Ellenbogen.).

Jahre lang waren Wissenschaftler*innen davon überzeugt, dass sich das Gehirn im Kindesalter ausbildet und dann so bleibt, wie es ist, bis es im Alter langsam nachlässt und uns irgendwann im Stich lässt. Mittlerweile hat sich dieses Bild gewandelt. In den letzten Jahren wurde immer mehr über die sogenannte Neuroplastizität bekannt, die Fähigkeit des Gehirns, sich den Umständen anzupassen und sich weiterzuentwickeln. Diese Fähigkeit führt dazu, dass unser Gehirn erstaunliche Selbstheilungskräfte entwickelt. „Neustart im Kopf“ zeigt Beispiele, in denen es gesunden Teilen des Gehirns gelang, Aufgaben von durch Krankheit oder Unfall verlorenen Teilen des Gehirns zu übernehmen. Und sogar ohne Teile unseres Gehirns zu verlieren, können wir unser Gehirn neuroplastisch trainieren: Anregende Aktivitäten verbessern die Struktur unseres Gehirns und damit unser Denkvermögen. Durch Umgebungen und Aktivitäten, die uns geistig herausfordern und anregen werden Strukturen im Hirn verändert und es kann besser Denken. Sogar Ratten, die in anregenderer Umgebung gehalten werden, bilden mehr Neurotransmitter als ihre gelangweilten Artgenossen. Und Neurotransmitter sind unser „Hirndünger“.

Auch sehr spannend ist sein Kapitel über Angst. Wir sind alle gut darin, uns hin und wieder Sorgen zu machen. Wenn die Angst nicht wieder verschwindet, liegt das, so Doidge, oft darin, dass der Teil des Gehirns, der dafür zuständig ist, Ängste abzuschalten, nicht funktioniert. Doch das ist reparierbar, mit Hilfe von Aufmerksamkeitsübungen (sobald die Angst zuschlägt, tun die Patienten etwas, das sie mögen, z.B. ihr Lieblingslied hören, zum Workout gehen oder sich umarmen lassen) kann die Hirnaktivität „Angst“ nach und nach positiv konnotiert werden, und das neue Gefühl, die Freude über ein schönes Erlebnis, übernimmt schrittweise die Aufgaben des Angstbereiches, das Hirn vernetzt sich neu, dies ist in Gehirnscans nachweisbar. Hier gibt es also neurowissenschaftliche Beweise dafür, warum unsere hypnotherapeutische Arbeit der Problem-Lösungs-Gymnastik (wir nutzen das ungewollte Gefühl als willkommene Erinnerungshilfe für das, wie wir uns fühlen wollen) so gut funktioniert. (mehr dazu in meinen Artikel Tanz der Phänomene LINK – wer ihn haben möchte, bitte melden, wir verschicken ihn gerne als PDF)

Außerdem gibt es noch spannende Kapitel über die neuroplastische Behandlung von Phantomschmerzen, über die Entstehung von sexuellen Vorlieben und die Stärkung von Muskeln und Koordination durch Imagination und vieles mehr.

Und: wie wir unser Gehirn möglichst lange jung halten! Es bleibt wahr, dass unser Gehirn in jungen Jahren schneller lernt, verlernt, umlernt. Doch die Lernfähigkeit verschwindet nie ganz. Und eine der bedeutsamsten neueren Erkenntnisse: Stammzellen altern nicht. Sie haben die Fähigkeit, sich unendlich oft zu teilen und sich in Neuronen oder Gliazellen auszubilden. Diese Fähigkeit behalten sie bis zu unserem Tod, egal wie alt wir werden. Der Nachweis dieser Stammzellen ist eine Revolution. Denn er bedeutet, dass wir unser Gehirn selbst jung halten können. Dazu tragen vor allem anregende Umgebungen bei: Wer öfter etwas Neues ausprobiert, regt die Stammzellen dazu an, sich zu teilen und neue Neuronen auszubilden. Das kann alles Mögliche sein: Wir können eine neue Sprache lernen, uns mit ungewohnten Themen oder Menschen auseinandersetzen oder uns in vollkommen unbekannte Situationen manövrieren. Das alles hält unser Gehirn jung. Hauptsache: wir tun etwas, das NEU ist. Anschlusslernen zählt nicht. Also: wagt das Unbekannte. Lernt chinesisch oder stricken, geht flyboarden, trefft euch mit Menschen außerhalb eurer Filterblase. Auf einen guten Neustart im Kopf!

Vanessa Krüger

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Timm W.

    Vielen Dank für diese anregende Buchempfehlung.

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